Liebe katholische Mitchristen,
sehr gerne komme ich der Bitte nach, im Reformationsjubiläumsjahr ein Grußwort für den Pfarrbrief Heilig Geist zu schreiben. Aber was genau feiern wir eigentlich in diesem Jahr? Der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Dr. Bedford-Strohm, hat angeregt, die Erinnerung an Martin Luthers Thesenanschlag zum Anlass zu nehmen, gemeinsam ein Christusfest zu feiern.
Aber ein Reformationsjubiläum ist für mich doch noch etwas anderes als ein Christusfest. Denn der historische Anlass dieses Jubiläums ist nicht Jesus Christus, sondern die mutige Tat des Augustinermönchs Martin Luther. Um sein Andenken geht es in diesem Jahr, während das Andenken an Jesus Christus jedes Jahr prägt: In jedem Jahr dürfen wir an Weihnachten, an Ostern und an Himmelfahrt Christusfeste feiern! Dafür bedarf es keines Reformationsjubiläums.
Aber warum sollen katholische Christen gemeinsam mit den Protestanten 500 Jahre Reformation feiern? Sind die Gräben, die der Glaubensstreit im 16. Jahrhundert aufgerissen hat, nicht zu groß – bis heute? Im Verständnis von Kirche, Priesteramt und Eucharistie gehen wir immer noch verschiedene Wege. Und Luthers Lehren, die auf dem Konzil von Trient (von 1545 bis 1563) offiziell verurteilt wurden, sind bis heute nicht rehabilitiert worden. Also noch einmal die Frage: Warum sollen katholische Christen mit uns gemeinsam ein Reformationsjubiläum feiern?
Ein Antwortversuch: Die Reformation ist auch für katholische Christen ein bedeutsames Datum, denn die katholische Kirche in ihrer heutigen Form gäbe es ohne dieses historische Großereignis gar nicht.
Das Trienter Konzil hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die von Luther aufgedeckten Missstände innerhalb der katholischen Kirche einer Revision zu unterziehen. Im kritischen Gegenüber zur protestantischen Reformation überprüfte das Konzil die katholischen Lehren, Sitten und Gebräuche, überwand die offensichtlichen Missbräuche im Ablasswesen und in der Besetzung kirchlicher Ämter und vereinheitlichte die kultische Praxis.
Und 400 Jahre später hat die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) ihre Fenster zur Neuzeit erneut weit geöffnet und zahlreiche Errungenschaften der Reformation übernommen, etwa die Landessprache für die Liturgie, die wissenschaftliche Erforschung der Bibel für die Theologie und die Anerkennung der Gewissensfreiheit für die Gläubigen.
So haben sich die katholische und die evangelische Kirche im Verlaufe der Jahrhunderte gegenseitig bereichert, wenn auch meist eher implizit. Aber keine der beiden Kirchen wäre heute die, die sie ist, wenn es das Gegenüber der jeweils anderen Konfession nicht gegeben hätte.
Und dieses kritisch-konstruktive Miteinander, das uns immer wieder neu herausfordert, unsere eigene Glaubenstradition durch die jeweils andere Konfession zu hinterfragen, könnte auch für katholische Christen ein Anlass sein, das Reformationsjubiläum freudig zu feiern: mit besonderen Gottesdiensten, mit interessanten Bildungsveranstaltungen, mit einem Fest der Begegnung und mit mutigen Schritten hin zu gelebter Ökumene.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein würdiges und nachhaltiges Reformationsjubiläum.
Ihr Pfr. Dr. Udo Lenzig